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Tagung der Varnhagen Gesellschaft
55583 Bad Münster am Stein (Ortsteil Ebernburg) |
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12. September 2009 |
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"Von Sigurd
bis Sickingen: Rittertugenden und Wertekanon von
der Romantik bis zur Arbeiterbewegung".
Tagung der Varnhagen
Gesellschaft e. V., Kurpfälzer Amtshof,
Burgstraße 13, 55583 Bad Münster am Stein
(Ortsteil Ebernburg)
Grußwort der Schirmherrin Andrea Nahles
MdB (SPD)
Sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Nikolaus Gatter,
gerne erinnere ich mich an unsere gemeinsame Zeit
an der Uni Bonn, wo Sie mir germanistisch auf die
Sprünge geholfen haben.
Für die Mitgliederversammlung der Varnhagen
Gesellschaft möchte ich Ihnen ganz herzliche
Grüße senden und Ihnen eine schöne,
diskussionsfreudige und natürlich erkenntnisreiche
Tagung wünschen.
Es freut mich außerordentlich, dass ich die
Schirmherrschaft für diese Versammlung übernehmen
konnte, wenn ich auch das ist einfach dem
Wahlkampf geschuldet leider nicht persönlich
anwesend sein kann.
"Von Sigurd bis Sickingen, Rittertugenden und
Wertekanon von der Romantik bis zur Arbeiterbewegung"
der Titel der Tagung mag den einen oder die
andere vielleicht irritieren oder auch, je nach
Gemütsverfassung, schmunzeln lassen. Denn die
entscheidenden Begriffe erscheinen doch weit auseinanderliegend
oder jedenfalls viele Ebenen anzusprechen: Sigurd,
ein frühmittelalterlicher Comic-Ritter, dessen
ritterliche Moral durch seine legendäre blonde
Haartolle versinnbildlicht wird; Franz von Sickingen,
ein "historischer Ritter" an der Wende
zur Neuzeit (was gewissermaßen sein Problem
war); die Romantik, deren literarische und künstlerische
(und zum Teil auch politische) Vertreter oft genug
das (ritterliche) Mittelalter als Beispiel oder
Sinnbild für ein nicht-fragmentiertes, "organisches"
Leben und Lebensgefühl begriffen, und die Arbeiterbewegung,
die, jedenfalls nach herkömmlichem Verständnis,
als gesellschaftlich-politische Kraft durch den
industriellen Arbeitsprozess und kurz gesagt
eine gewisse Nüchternheit charakterisiert
war. Fast scheint es also so, als sollten hier Dinge
zusammengebracht werden, die nicht zusammengehören
oder deren Zusammenhang sich nicht auf den ersten
Blick erschließt.
Eins aber leistet der Titel ganz gewiss: Er macht
neugierig.
Und schon ein zweiter Blick zeigt, wo die Verbindungen
begründet sind. Denn als gemeinsamer Mittelpunkt
lässt sich fast exemplarisch Ferdinande Lassalle
begreifen. Und allerspätestens hier wird es
für eine Germanistin und Sozialdemokratin interessant,
denn er veröffentlichte 1859 sein Drama "Franz
von Sickingen".
Dass der als Begründer der deutschen Arbeiterbewegung
bekannte Lassalle sich literarisch betätigte,
mag überraschen. Jedenfalls wäre so etwas,
das kann ich Ihnen versichern, im heutigen Politikbetrieb
etwas vorsichtig ausgedrückt
sehr außergewöhnliches. Noch überraschender
scheint vielleicht, dass er ausgerechnet die Figur
eines historischen Ritters und dessen Selbstverständnis
eben als Reichsritter wählte, um seine
politischen Überzeugungen darzulegen und eines
der zentralen Ereignisse seiner Zeit zu analysieren:
das Scheitern der 1848er Revolution und damit der
Bemühungen um die Einigung und freiheitliche
Organisation Deutschlands.
Erstaunt waren jedenfalls auch die Zeitgenossen
Lassalles. Denn das Drama stieß auf erhebliche
Resonanz. Zwar in der von Lassalle sicherlich vorgesehenen
Art und Weise das Stück gelangte ja
zunächst nicht zur Aufführung. Nicht zuletzt
die Tatsache, dass Lassalle eben einen Ritter (und
nicht etwa den Bauernführer Thomas Münzer)
in den Mittelpunkt rückte, veranlasste aber
zwei weitere Zentralpersonen der deutschen Arbeiterbewegung,
Marx und Engels, sich intensiv mit dem Stück
und seinen inhaltlich-ästhetischen Ansprüchen
und Grundlangen auseinanderzusetzen. Die als "Sickingen-Debatte"
in die Geschichte eingegangene Diskussion war damit
Motor und Beispiel für die Klärungsprozesse
der ja noch jungen deutschen Arbeiterbewegung und
zeigt, wie unterschiedlich, Wurzeln, Ziele und das
Selbstverständnis der neuen Bewegung waren.
Dem inhaltlich und persönlich in der Salonkultur
des 19. Jahrhunderts verwurzelten Lassalle standen
Marx und Engels (und in der Folge "die Eisenacher"
um Bebel und Liebknecht) gegenüber, die sich
um eine materialistisch fundierte Geschichtsauffassung
bemühten und damit jede Kontinuität zwischen
dem Vormärz und der Arbeiterbewegung leugneten,
sondern vielmehr das gänzlich (und historisch)
Neue an der Arbeiterbewegung herausstellten.
Und gerade die Varnhagen Gesellschaft zeigt mit
ihrer Arbeit, der Erschließung der Varnhagen
von Enseschen Sammlung, wie sehr diese Debatten
nachwirkten. Nicht zuletzt durch ihre Tätigkeit
wird deutlich, wie auch hier wieder inhaltlich
wie persönlich vernetzt die politisch-literarische
"Klasse" und wie rege der Austausch innerhalb
der politischen Linken war. Die sozialdemokratische
Presse sorgte dadurch, dass sie die Tagebücher
Karl August Varnhagen von Enses nachdruckte, für
deren Verbreitung und sozialdemokratische Schriftsteller
wie zum Beispiel Franz Mehring setzten sich noch
Ende des Jahrhunderts mit dem preußischen
Diplomaten und seinen Aufzeichnungen auseinander.
Die gerade angesprochene Episode macht aber auch
deutlich, welche Ebenen mit der Arbeit der Varnhagen
Gesellschaft angesprochen werden und welche Bedeutung
ihr zukommt. So wirft die Erschließung der
Sammlung ein Schlaglicht auf die lassen Sie
es mich so nennen "ungemütlichen"
Seiten des 19. Jahrhunderts in Preußen-Deutschland
und ihre bis heute nachwirkenden Folgen: Die Veröffentlichung
des Briefwechsels Alexander von Humboldts mit Karl
August Varnhagen von Ense durch dessen Nichte, Ludmilla
Assing, verursachte einen handfesten Skandal. Die
Verleumdungskampagne der hochkonservativen Presse
(allen voran der Kreuzzeitung) war nicht nur antisemitisch
gefärbt. Der Versuch, das Buch zu marginalisieren
und lächerlich zu machen, ist sicherlich besonders
perfide und vielleicht auch typisch scheint
er doch dem Umstand geschuldet, dass es eine Frau
war, die die Herausgabe der Aufzeichnungen bewerkstelligte.
Auch die Konsequenzen (und ihre Bedeutung) dieser
werden durch Ihre Arbeit ins Bewußtsein gerufen:
Aufgrund des Skandals um die Veröffentlichung
der Briefe Humboldts wurde nicht nur ein bereits
im Entwurf existierendes Denkmal für den Naturforscher
nicht ausgeführt, das preußische Kultusministerium
verweigerte auch den Ankauf seiner Bibliothek, die
daraufhin 1865 in London bei einem Brand vernichtet
wurde. Die Varnhagensche Sammlung selbst wurde
nach Jahrzehnten konsequenten Ignorierens durch
die deutsche Wissenschaft nach Schlesien
ausgelagert und war über lange Jahre nicht
zugänglich. Erst den Bemühungen der Varnhagen
Gesellschaft ist es zu verdanken, dass die mittlerweile
in Krakau lagernden Bestände wieder für
die Forschung geöffnet sind. Dass die Gesellschaft
damit einen Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung
leistet, ist sicherlich nicht ihr geringstes Verdienst
und gibt fast genau siebzig Jahre nach dem
deutschen Überfall auf Polen Anlass
zu Hoffnung, dass das Bemühen um ein friedliches
Miteinander des "anderen Deutschland",
das in der Varnhagenschen Sammlung immer wieder
aufscheint, eines Tages Realität wird. Für
den wichtigen Beitrag, den die Varnhagen Gesellschaft
zur "politischen Kultur" unseres Landes
leistet, indem immer wieder ins Bewusstsein rückt,
welchen Grundlagen und Zielen die deutsche Politik,
zumal eine sozialdemokratische, verpflichtet ist
oder sein sollte, danke ich ihr und wünsche
ihr gleichzeitig viel Erfolg in ihrer weiteren Arbeit.
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Mit besten Grüßen
Andrea Nahles MdB
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20.09.2009
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