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"Die Sammlung Varnhagen bis zur Katalogisierung"
Nikolaus Gatter

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Almanach 1: beim Verlag noch lieferbar
Wenn die Geschichte um eine Ecke geht. Hg. v. Nikolaus Gatter unter Mitarbeit von Eva Feldheim und Rita Viehoff. Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz GmbH 2000, 320 S., 44 Abb., kart. 48,- DM ISBN 3-8305-0025-4; ISSN 1439-6254
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Almanach 2(2002):
Makkaroni und Geistesspeise. Hg. v. Nikolaus Gatter unter Mitarbeit von Christian Liedtke und Elke Wenzel. Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz GmbH 2002, 424 S., Abb., kart. 35,- Euro, ISBN 3-8305-0296-6; ISSN 1439-6254

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Almanach 3(2015):
Der Sopha schön, und doch zum Lottern. Hg. v. Nikolaus Gatter unter Mitarbeit von Inge Brose-Müller und Sigrun Hopfensberger. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2015, 528 S., Abb., kart. 49,- Euro, ISBN 978-3-8305-0579-2
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Paris, 1810.
K.A. Varnhagen von Ense: Reiseberichte aus Straßburg, Lothringen und Paris mit neun Briefen an den Autor von Henriette Mendelsohn.Hg. v. Nikolaus Gatter. Köln 2013, 88 S., kart., 10,00 Euro, ISBN 978-3-00-040929-5
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Leseprobe aus Almanach 1

Nikolaus Gatter
»...sie ist vor allen die meine...«
Die Sammlung Varnhagen bis zu ihrer Katalogisierung
(aus Almanach 1)

(Auszug)
Mögen ihr, wie Ludwig Stern feststellte, die »berühmten Namen des 17. und 18. Jahrhunderts, die auf dem Autographenmarkte am höchsten geschätzt werden« (Stern, XII), fehlen: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung zählt zu den wohl größten und gehaltvollsten bürgerlichen Privatarchiven. Schon die hier vereinten Nachlässe des Ehepaars Rahel und Karl August Varnhagen von Ense, des Fürsten Hermann von Pückler–Muskau, Ludwig Roberts sowie Rosa Maria und Ludmilla Assings — um nur die wichtigsten Beiträger zu nennen — bilden, gemeinsam mit der Überlieferung ihrer Zeitgenossen, eine Kollektion von unschätzbarem kulturgeschichtlichem Wert.
Doch das Sammelinteresse greift weiter zurück und voraus: von der Frühaufklärung über den Sturm und Drang zu Klassik und Romantik, vom Vormärz über die Revolution von 1848/49 bis hin zu den Anfängen der Arbeiterbewegung. Es galt so heterogenen gesellschaftlichen Gruppen wie dem aufgeklärten Adel und dem liberalen Judentum, der preußischen Generalität und der jungdeutschen Opposition. Weltliterarische Perspektiven ergaben sich durch Varnhagens russische Studien, seine Verbindungen nach England, Frankreich, in die Vereinigten Staaten und durch das italienische Exil seiner Nichte und Nachlaßverwalterin. Mit Teilnachlässen und wertvollen Einzelgaben haben neben zahlreichen anderen Zeitgenossen Bettine von Arnim, Helmina von Chézy, Heinrich Karl Abraham von Eichstädt, Alexander von Humboldt, Apollonius von Maltitz und Johannes Schulze zu diesem Archiv beigetragen. Ihren Briefschaften diente es — nach einer glücklichen Formulierung Barbara Hahns — als »›Sammelstelle‹ [...] — eine Post sozusagen — , die dann das Verschicken an die Nachwelt in angemessener Form organisiert«.
Da ein im Oktober 1880 erstelltes Inventar bei der Überführung von Florenz nach Berlin verlorenging, kann der Umfang derzeit nur geschätzt werden. Genauer als Ludwig Sterns Katalog kann es nicht gewesen sein, der immerhin Briefe von und an ca. 9000 Personen verzeichnet. Manche von ihnen sind nur mit exemplarischen Einzelblättern, andere mit hundertblättrigen Konvoluten vertreten. Hinzu kommen die 2841 oft seltenen und handschriftlich annotierten Bücher der ›Bibliothek Varnhagen‹, ferner ein Ölbild, ca. dreißig Temperaporträts, mehrere Medaillons, eine Büste, Bleistiftzeichnungen, Kupferstiche, Ausschnitte aus illustrierten Zeitschriften, Scherenschnitte in Bunt- und Schwarzpapier, ein collagiertes Visitenkartenalbum, Daguerreotypien, ein Globus, eine Tabaksdose sowie ungezählte Artikel aus teils verschollenen oder von der Zensur unterdrückten Journalen.
Allein von Rahel Varnhagen sollen rund 6000 Handschriften existieren. Bilden die an sie gerichteten Briefe — zusammen mit der politisch–literarischen Korrespondenz ihres Ehemanns bis 1833 — gleichsam den Grundstock der späteren Sammlung Varnhagen, so wäre es doch allzu vereinfachend, diese schlechthin mit »ihrem Nachlaß« gleichzusetzen. Die reiche Überlieferung dieses Lebenswerks ist vielmehr dem jahrzehntelangen Bemühen des Witwers zu verdanken, Rahels Originalbriefe oder Abschriften von den Empfängern einzufordern, sie mit den an sie gerichteten Briefen zu vereinigen, sie zum Druck vorzubereiten und ihnen durch Auswahleditionen, die von Ludmilla Assing fortgesetzt wurden, ein Lesepublikum zu gewinnen.
Anweisungen zum editorischen Umgang mit der so vervollständigten Korrespondenz finden sich in großer Zahl in den Rahel–Konvoluten der Sammlung. Einige sind aus programmatischen Vorworten der Nichte zu ihren Briefausgaben bekannt (vgl. GW IV, X–XIII; VIII, V–VIII), weitere wurden von Ursula Isselstein veröffentlicht und analysiert. Manches spricht dafür, nicht zuletzt die rasch erfolgte Publikation und der Titel ohne Nennung eines Herausgebers, daß die Konzeption von Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde bereits vor oder während ihrer letzten schweren Krankheit erfolgte. »Alles Praktische«, meint Isselstein, »was mit der Herausgabe, dem Druck und der gezielten Verteilung ihrer Schriften zu tun hatte, überließ Rahel in der Regel den kompetenten Händen ihres Mannes.« Dessen philologische Leistung war zugleich persönliche Erinnerungsarbeit. Das Kommentieren, Abschreiben, Ordnen und Überliefern der Lebenszeugnisse wurde oft als sogenannter ›Rahel–Kult‹ mißverstanden und — am nachhaltigsten durch Hannah Arendt — verunglimpft. Dabei soll die Absicht zugrunde gelegen haben, Rahels Persönlichkeit zu idealisieren, der Nachwelt ein stilisiertes oder verfälschtes Bild von ihr zu hinterlassen. Dieser Intention folgend hätte Varnhagen, dessen Biographien seinen literarischen Ruhm begründeten, sinnvollerweise die ihm zur Verfügung stehenden Briefe in einer Lebensschilderung zusammengefaßt und anschließend vernachlässigt, statt sie getreulich zu überliefern.
Daß Rahels Haltung zum Judentum oder zum weiblichen Geschlecht kritischer gewesen sein soll, als das Buch des Andenkens erkennen ließ, reicht zum Nachweis einer aktiven Stilisierung ebensowenig aus wie die Verwendung von Namenskürzeln, die im Handexemplar für die künftige Wiederherstellung aufgelöst sind. Gegen literarische Verklärungen Rahels hat Varnhagen mehrfach, wenn auch nicht öffentlich, Einspruch erhoben. Das Vierteljahrhundert seiner Nachlaßverwaltung hätte ihm ausreichend Gelegenheit geboten, alles dem vermeintlichen Idealbild Widersprechende zu tilgen. Doch hob der pietätvolle Sammler jedes ›Streitzettelchen‹ Rahels auf, sogar die über ihn selbst absprechenden Urteile ihrer Freunde.
Und wenn mitunter tatsächlich Briefe unauffindbar oder Schwärzungen im minimalen Umfang weniger Worte oder Sätze festzustellen sind, sollte nicht leichtfertig von ›Zensur‹ oder ›Vernichten‹ geredet werden: All diese Lebenszeugnisse wurden zunächst nicht als literarische und öffentliche, sondern als private und persönliche gesammelt. Über Publikation oder Tradierung entschieden, und zwar sehr umsichtig, alle Stifterinnen und Stifter, aus unterschiedlichsten Motiven, zuletzt erst die aufeinanderfolgenden Erblasser.
Arendts These blieb jedoch unwidersprochen, nachdem die Sammlung im Zweiten Weltkrieg nach Schlesien ausgelagert wurde und für rund vierzig Jahre als verschollen galt. Heute stellt sich im Vergleich mit den Handschriften heraus, daß Arendt ihrerseits Zitate polemisch verfälscht hat, um die Varnhagensche Ehe in Mißkredit zu bringen, und die Publikationen Ludmilla Assings geradezu ignorierte. Bei unvoreingenommener Betrachtung erscheint es gar nicht so ungewöhnlich, wenn der Witwer das Andenken der Verstorbenen als »Lebensinhalt« (Tb VII, 145, 24.4. 1850), die Verwaltung ihrer Handschriften — mit »vielem anderen, was mir auch obliegt!« — als sein »wahres Leben« bezeichnete. Der Sammlerfleiß war durch sein intimes Verhältnis zur Autorin ebenso gerechtfertigt wie durch die Texte selbst und durch die Persönlichkeit, die sich in ihnen ausspricht. Diese in »ein richtiges Gesammtbild« zu fassen, sah sich Varnhagen außerstande (Tbl 6.2.1843), notierte jedoch an ihrem fünfzehnten Todestag (7.3.1848): »Das Beste, was mich innerlichst freut und befriedigt, ist dies, daß es mir gelungen, Rahels Andenken für die Welt daurend festzustellen!«
Daß er damit auf Wunsch und im Sinne der Autorin handelte, die sich auch ohne schriftstellerischen Ehrgeiz der literarischen Geltung ihres Schreibens bewußt war, geht aus vielen Andeutungen hervor. Das postume Aufspüren — »durch List etwa« — ihrer Korrespondenzen, die sie für »eine Original=Geschichte und poetisch« hielt, hatte sie schon im Juli 1800 ihrer Freundin Wilhelmine von Boye aufgetragen (GW I, 208). Die oft zitierten Verfügungen über ihren Briefwechsel mit Pauline Wiesel (vgl. GW II, 393) — kein Testament und mitnichten ihr letzter Wille — zielten ebenfalls auf das Zusammenführen und Aufbewahren, das später der Witwer besorgen sollte. Nachdem ihm Pauline Wiesel 1833 die Teilnahme an der ersten Nachlaßpublikation, dem Buch des Andenkens, ausdrücklich versagt hatte, ließ sie sich 1841 zu einem Verkauf von 55 Rahel–Briefen an den Herausgeber bewegen.
Ob und in welchem Umfang die Sammlung schon bei Rahels Tod am 7. März 1833 strukturiert war, läßt sich nur vermuten. Kopien ihrer ausgehenden Post hat Rahel offenbar nicht angefertigt. Die an sie gerichteten Briefe hat sie, in einem wechselvollen, von Kriegen, Reisen, Orts- und Wohnungswechseln geprägten Leben, sorgfältig aufbewahrt. Nach ihrer Heirat blieb die Archivierungspraxis, über die auch neuere Briefeditionen keinen Aufschluß geben, wohl nicht unbeeinflußt vom Diplomatenberuf ihres Ehemanns. Als preußischer Ministerresident am Badischen Hof hatte Karl August Varnhagen von Ense neben seinen politischen Berichten eine ausführliche, teils vertrauliche Korrespondenz und entsprechend sorgfältige Ablage führen müssen. Nach seiner Abberufung und Versetzung in den Wartestand kehrte das Paar 1819 nach Berlin zurück. In der Folgezeit erschienen erstmals aphoristische Auszüge aus Rahels Briefen im Morgenblatt für gebildete Stände, in Ludwig Börnes Wage und anderen literarischen Zeitschriften (vgl. GW X, 452).
Unmittelbar nach Rahels Tod verlegte sich der um sein Lebensglück Trauernde ganz auf die editorische Arbeit. Sechs Wochen später, als Varnhagen erste Kondolenzen beantwortete, wurde auch das Vorhaben erwähnt, »eine Sammlung zu Rahels Andenken drucken zu lassen, die beinahe fertig liegt«. War die in den Nachlaß-papieren »sichtbare Geistigkeit noch das Einzige, was dem Gemüth eine Täuschung, einen Wahn von Trost gewährt«, so hätte der Witwer gewiß lieber »Alles [...] um einen Blick, einen Laut, eine Umarmung« hingegeben.
Zweieinhalb Monate später betonte er gegenüber Fanny Tarnow, der Druck sei bereits »zu weit vorgerückt, als daß ich von dem, was Sie mir schicken, noch etwas dafür benutzen könnte; ich mußte mich auf das beschränken, was gleich zur Hand war«. Rahel–Briefe an die Dresdner Autorin enthielt dennoch bereits die erste, einbändige Ausgabe (vgl. BA 388ff., 484f.). Im Herbst 1833 wurde sie an die im Titel angesprochenen Freunde, vorwiegend Korrespondenzpartner Rahels, kostenlos verteilt. Im Dezember desselben Jahres unterzeichnete Varnhagen das Vorwort der im Frühjahr 1834 ausgelieferten dreibändigen Buchhandelsausgabe (GW I, IV).
An der Veröffentlichungsintention der Autorin lassen ihre 1831 formulierten testamentarischen Bestimmungen (Anhang 1) mit eigens disponiertem Druckkostenzuschuß keinen Zweifel. Der Rekurs auf die »hierüber vorfindlichen Angaben« bestätigt vielmehr die Vermutung, daß ein gemeinsam erarbeitetes Editionskonzept vorlag, das beim vor- oder gleichzeitigen Tod des Universalerben durch Rosa Maria Assing realisiert werden sollte: Rahels Schwägerin, deren »edles, stilles, konsequentes Wesen und Leben« sie bewunderte, war ihr Vermächtnis in der Erbfolgeregelung zugedacht. Varnhagens ergänzende Verfügungen von 1837 über den Umgang mit der Sammlung (Anhang 2) richteten sich daher zunächst an seine Schwester in Hamburg, die ihre editorische Kompetenz bereits mit Briefen Chamissos unter Beweis gestellt hatte, und wurden später unverändert auf ihre jüngste Tochter Ludmilla übertragen.
Der Ehemann David Assur Assing wird in Rahels Erbfolgeregelung nur zusammen mit den Kindern erwähnt und war offenbar nie als editorischer Betreuer vorgesehen. Bei Rosa Marias frühem Tod war es daher Varnhagens erste Sorge, für den Fall seines eigenen Ablebens die Aufsicht über die Verwaltung der Nachlaßpapiere durch eine der Nichten zu gewährleisten (Anhang 3). Doch im folgenden Jahr starb auch deren Vater, und die verwaisten Schwestern mußten noch den Brand von Hamburg erleben, bevor Ottilie den Entschluß faßte, mit ihrer jüngeren Schwester Ludmilla nach Berlin zu übersiedeln. Dies geschah 1842, und im selben Jahr bezeichnete Varnhagen sein Archiv erstmals als Autographensammlung (Anhang 4).
Interesse für Autographen hegte er schon als Student: 1804 schrieb sich Achim von Arnim in sein »Stammbuch [...], das wie die Lade einer Meistergilde voll Dichterhandschriften war«. Seine biographischen Schriften empfahlen Varnhagen als Redakteur und Herausgeber: Literarische Projekte, die man ihm antrug, waren u. a. die Herausgabe von Briefen Georg Kerners, die — erst infolge seiner Absage von Karl Lachmann übernommene — Lessing–Werkausgabe, die von ihm selbst mitfinanzierte Edition der Denkwürdigkeiten Johann Benjamin Erhards bis hin zum Leben des Generals Grafen Bülow von Dennewitz, für dessen Schilderung das Bülowsche Familienarchiv zur Verfügung stand. Nicht selten wurden Varnhagen ganze Nachlässe zur Auslese überlassen. Auch von seiner verstorbenen Schwester Rosa Maria heißt es in einem Nachruf: »Briefe zu sammeln und aufzubewahren, hatte für sie den Reiz, als sollte sie jedem ihrer Freunde Biograph sein.«
Doch fiel der Ausbau persönlicher, dem unmittelbaren Lebenskreis zugehöriger Briefschaften zum umfassenden Archiv eigener, familiärer, fremder und historisch überlieferter Lebenszeugnisse erst in die frühen vierziger Jahre. Ein zufälliges Erlebnis gab vermutlich den Anstoß (Tb I, 317, 23.7.1841): Von Sydney Morgan, die er im Auftrag einer Freundin um eine Handschriftenprobe bat, erhielt Varnhagen »etwas ganz Persönliches«, weshalb er »das Blatt behalten« und ein weiteres erbitten mußte, »um doch meiner Bestellerin auch etwas geben zu können«.
Im folgenden Jahr teilte er Troxler mit, er sei »seit kurzem erst [...] Autographensammler geworden, und je mehr ich versäumt habe, dadurch, daß ich es nicht früher geworden, desto heftigeren Eifer bring’ ich jetzt zu der Sache«. Karl Rosenkranz erwiderte auf eine ähnliche Mitteilung: »Ich kann mich eigentlich nur wundern, daß Sie dies erst jetzt anfangen, weil es bei Ihnen viel natürlicher, als bei Andern, ist.« Ausführliche Wunschlisten erhielten seine Bekannten in ganz Europa, darunter Heine, Carlyle, Hebbel, Alexander Weill, David Ferdinand Koreff, Amely Bölte, Marie d’Agoult und der Verleger Cotta, von dem sich Varnhagen statt Buchgeschenken zum Geburtstag Autographen erbat. Zusendungen erhielt er auch aus Rußland, den Vereinigten Staaten und Indien.
Bald waren reichhaltige Bestände zu verzeichnen, »im Ganzen über achthundert Stück, größtentheils aus eigenen Briefwechseln entlehnt, dann aus Rahel’s, Erhard’s, Robert’s, der Frau von Grotthuß’ Papieren, aus Geschenken Alexander von Humboldt[s] etc.« (Tbl 25.11.1841). Vier Jahre später besaß Varnhagen »über fünftausend Blätter und darunter sehr wichtige, seltene, einzige«. Varnhagens Tagesblätter — tägliche Aufzeichnungen auf verschiedenfarbigen, engzeilig beschriebenen Blättern — thematisieren häufig den Erwerb, die Sicherung und Verwaltung solcher Lebenszeugnisse, ihre Lektüre und Editionsproblematik. Eine Gesamtausgabe dieser Chronik könnte, wie Heinrich Hubert Houben meinte, »das ganze [...] Gebiet des übrigen handschriftlichen Nachlasses« (Tb XV, VII) und »von diesem Gesichtspunkte aus [...] seine ganze literarische Tätigkeit« erschließen.
Auch an anderer Stelle hat sich Varnhagen programmatisch über seine Sammlung geäußert. Da es ihm widerstrebte, seinen Besitz durch Ankäufe zu vermehren, pflegte er zu tauschen und verständigte sich mit Gleichgesinnten wie Heinrich von der Tann, Richard Zeune und anderen (Tb X, 160, 22.5.1853; XIII, 198, 24.10.1856). Dagegen reagierte der Sammler bestürzt, wenn er von Versteigerungen hörte (vgl. Tbl 25.9.1857) oder gar eigene oder Rahels Briefe in Auktionskatalogen annonciert fand (19.10.1840; 19.1.1852).
Nicht vergleichbar waren seine Ordnungsprinzipien mit denen der Kollektion des Generals von Radowitz. Dieser Sammler bevorzugte die »eigenhändigen Schriftzüge der großen geistigen Agitatoren [...], mit welchen sie einst die Gedanken ihrer Zeitgenossen gelenkt« und »der Gewaltigen, deren Rathschluß oder Degen das Schicksal der Welt bestimmt hat«. Seine Systematik folgt einer Hierarchie der Berufe und Stände, in der ›große Verbrecher‹ und moralisch ›verwerfliche‹ Frauen nicht fehlen. In Abgrenzung zu Radowitz hielt Varnhagen an seinem subjektiven Erfahrungshorizont fest, als er »den Aufsatz über Autographen«, den er schon vom Erstdruck her kannte (vgl. Tb III, 397f., 23.7.1846), erneut las (IX, 369, 15.9.1852):
In letzterem giebt er Weisungen und Ansichten, die für mich ohne Werth sind; meine Sammlung ist eine andre, als er meint, sie ist vor allen die meine, nach meinen Verhältnissen, Absichten und Gelegenheiten.
Dieses persönliche, zunächst an den eigenen und Rahels Lebenskreis gebundene Interesse nahm keine Rücksicht auf die allgemeinhistorische Relevanz von Schriftstücken oder gar die Prominenz ihrer Verfasser (Anhang 4). Auch ihr antiquarischer Wert war nicht ausschlaggebend: »Des Nächstvergangenen nicht zu achten ist unser schlimmer Fehler«, notierte Varnhagen über die literaturgeschichtlichen Bestrebungen seiner Zeit (Tb XI, 114, 19.6.1854). In der überschwenglichen Hoffnung, ein Surrogat des ihnen innewohnende ›Lebens‹ zu spüren, ließ er sich den Erhalt von Briefschaften der Zeit um 1800 besonders angelegen sein:
Aus jener Zeit stammte seine Bekanntschaft mit Rahel, und für all’ diese Bekanntschaften hegte Varnhagen eine sorgfältige Pietät. [...] Die ›Rettungen‹ Lessing’s waren für Varnhagen ein Lieblingsgedanke, und in dieser Richtung waren die Gespräche mit ihm stets interessant. Das Menschliche herauszufinden, das Dauernde abzusondern, das Verwegene zu entdecken, war ihm stets angelegen [...].
Auf solche Weise »das wahre Lebensbild einer Zeit, eines Kreises« zu überliefern (BPG II, 68, 19.3.1822), »daß auch der Fremde und Spätlebende nach und nach in einer solchen wirklichen und durch geistige Ueberlieferung zugleich idealen Gesellschaftswelt endlich ganz einheimisch werde und mitlebe«, war das heimliche Grundmotiv des Sammelns, nicht der literarische Rang oder historische Quellenwert (Tb II, 351f., 31.8.1844):
Meine Sorgfalt für alles Litterarische ist doch eigentlich nur Gleichgültigkeit für dieses; denn es gilt mir nur als bewahrende Schale eines darin liegenden Lebenskernes, und wo nur irgend ein solcher mich anglänzt, möcht’ ich jene Schale schützend um ihn her legen! Es geht nothwendigerweise so viel verloren, laßt uns einiges zu retten suchen! laßt uns Bäume pflanzen, die Schatten geben; wenn man auch einst sie niederhaut!
Der »Geist des diesen Blättern anvertrauten Lebens« (Tbl 5.4.1841), der »elektrische Strom, der aus diesen alten Blättern in meine Seele fuhr« (Tb IX, 170, 18.4.1852), berauschte Varnhagen bei den Korrespondenzen Pauline Wiesels. Doch nicht diese verschafften der Sammlung einen Ruhm, der ihr noch das Jahrhundert der Weltkriege überstehen half, sondern die Handschriften oft erst nachträglich kanonisierter Autoren von spektakulärer Geltung. Die Briefe von Fürsten und Staatsmännern, Dichterheroen und Philosophen von Weltgeltung machten es möglich, Lebenszeugnisse gebildeter Frauen und Juden, oppositioneller Demokraten und Revolutionäre und »von allen den vielen, von denen sonst kaum eine Spur geblieben« wäre (Stern, XII), zu erhalten.
Entsprechend zeigte sich auch Ludmilla Assing mutig genug, Pauline Wiesels Briefe im Kontext mit denen von General Gneisenau, Tieck und Wilhelm von Humboldt zu drucken. Zwar begann ihre Nachlaßpublikation mit der Korrespondenz des erst wenige Wochen zuvor verstorbenen Alexander von Humboldt, doch dessen Weltruhm konnte nicht verhindern, daß er gerade dadurch aus dem offiziösen Kanon herausfiel. Das preußische Königshaus verzichtete auf den Ankauf seiner wissenschaftlichen Sammlungen, und im Gedenkjahr 1869 durfte ihm nicht einmal ein Denkmal in Berlin errichtet werden. Wäre es ihr nur um den Nachruhm des Onkels gegangen, hätte die Herausgeberin für ihre Publikationsreihe Aus dem Nachlaß Varnhagen’s von Ense auf dessen unverfängliche Goethe–Korrespondenz zurückgegriffen. Nach einer Sichtung des Konvoluts notierte Ludwig Geiger verwundert, daß manche Briefe Goethes »wie es scheint auch von der sonst sehr druckbereiten Ludmilla Assing nicht gedruckt« wurden.
Gegen Varnhagens Sammlung polemisierte die reaktionäre Partei schon zu dessen Lebzeiten. So kolportierte die Kreuzzeitung eine angeblich von Alexander von Humboldt stammende Äußerung. Dieser soll der ›Nichte‹ eines autographensammelnden ›Onkels‹ einen Streich gespielt haben, indem er ihr die Handschrift eines unbedeutenden Postbeamten namens Zöppken aufnötigte: »denn ihr einen Zopf zu machen, hatte ich mich denn doch nicht unterstanden«. Humboldt, der Varnhagen auch viele der an ihn gerichteten Schreiben überließ, dementierte umgehend diese Polemik. Damit wurde die — zugleich als antiquiert und ›verzopft‹ abgewertete — Sammeltätigkeit erstmals publik.
Varnhagens Äußerungen lassen keineswegs auf zeremoniösen oder elitären Umgang mit der Sammlung schließen. Vor ihrer Systematisierung wollte er »die sämmtlichen Briefe von Goethe, Schiller, Jacobi, Fichte, Rahel, Humboldt, Wolf, Voß u.s.w. in Eine große Sammlung chronologisch vereinigt, und noch mit Erläuterungen ausgestattet sehen« (Tb I, 241, 5.12.1840). Angesichts von Faksimiledrucken wünschte er »jedem Artikel ein eignes Blatt bestimmt und diesem die nöthigen Erläuterungen ebenfalls selbständig beigegeben« sowie »die Möglichkeit, die einzelnen Artikel nach Gutdünken und Eigenwahl zusammenzustellen«.»Schon der Mangel an Raum hindert mich«, konstatierte er beim Ordnen von Rahels Nachlaß (Tbl v. 26.6.1857); »es müßte alles auseinander gelegt werden, alles offen daliegen, um nachschlagen, vergleichen, ordnen zu können, ich müßte mehrere Abschreiber haben, vielfache Hülfsmittel vereinigen etc.«
Dieser offenen, kompilatorischen Struktur war auch seine Systematik verpflichtet. Varnhagen legte die Papiere alphabetisch ab; seine Sammlung »dokumentiert, was das Schreiben an und aus einem Zentrum ausgrenzt« und überliefert somit auch jene Namen, »die sonst durch die Maschen der Tradierung fallen«. Die heute vorfindliche Gliederung ist allerdings das Werk Ludwig Sterns und seiner Nachfolger; sie läßt kaum Rückschlüsse auf die einstige Anordnung zu. Hier müssen zeitgenössische Quellen herangezogen werden. Anschaulich hat z. B. Lassalle in einem Brief an Karl Marx die um biographisches Material ergänzten Bestände geschildert:
Varnhagen, der unermüdlichste Notizensammler der Welt, hat über fast alle, nur einigermaßen bekanntere Menschen in einem alphabetisch geordneten Register sich Züge ihres biographischen Materials usw. zusammengestellt. Er hat es endlich über alle solche Menschen, von denen er Autographen besaß, als Anhang zu dieser Sammlung. Ich begab mich also sofort zu seiner Nichte ( — die übrigens Grund hat zu wünschen, daß nicht einmal von dem Dasein dieser Notizensammlungen jemand etwas erfahre; Du stellst natürlich eine Ausnahme dar, die aber nicht zu erweitern ist) und bat um Nachschlagung des Artikels Zabel. Aber obwohl sogar Autographen von ihm da sind, hat dieser Mensch ein so armes leeres Leben, daß über ihn allein sich kein Wort in der Notizensammlung findet.
Nach den Erinnerungen seines Hausarztes bewahrte Varnhagen die Autographen und beigefügten Anekdotenzettel in einem »großen Wandschrank« auf, der auch die »schwarzen Pappkasten« seiner Tagesblätter–Chronik barg:
Im Laufe der Unterhaltung pflegte er dann, wenn ihm ein Name, ein Datum oder eine Person entfallen war, den Schrank zu öffnen und seine Cartons hervor zu langen. So groß aber war die Ordnung in diesen Papieren, daß er stets das Gewünschte fand.
Zu deren Vermehrung trugen auch die aus Hamburg zugezogenen Nichten bei, selbst Ottilie Assing, die im August 1843 im Streit das Haus verließ und später nach Amerika auswanderte. Doch damit nahm ihre Schwester Ludmilla noch keineswegs umstandslos die Rolle der Universalerbin ein. Krisen und Störungen ihres Einvernehmens mit dem Onkel lassen sich in dessen Tagesblättern nachvollziehen, die seine Nachlaßverwalterin, hier und da mit apologetischen Randbemerkungen versehen, getreulich überlieferte (Anhang 7).
Ihren Umgang mit Schriftstellern des Jungen Deutschland tolerierte er, auch wenn »feindliche Persönlichkeiten« darunter waren »wie z.B. Gutzkow« (Tbl 5.3. 1844), für dessen Telegraph Ludmilla Assing seit 1846 schrieb. Die Formulierung seines Testaments, für die Varnhagen zwei Tage benötigte (vgl. Tbl 11.11.1842), war wohl ebenso vom literarischen Interesse seiner Nichten mitbestimmt wie von der Eventualität ihrer Verehelichung mit befreundeten Autoren. Das Zerwürfnis mit Ottilie ließ es ihm »besonders wichtig« erscheinen, »daß mein litterarischer Nachlaß gesichert werde, nicht der leichtsinnigen Unordnung und Fahrlässigkeit anheimfällt« (Tbl 5.8.1843). Die jüngere Nichte assistierte ihm beim Abschreiben von Pückler– Handschriften, worauf Varnhagen erneut »ernstliche Überlegungen [...] wegen meines Testaments« anstellte (Tbl 12.1.1847):
Ich fand am Ende gerathen, die jetzigen Bestimmungen – das heißt die durch Nachzettel verfügten – bestehn zu lassen. Vielleicht treten Umstände ein, bei denen ich eine Hauptänderung vornehmen muß, wo dann auch Nebensachen neu bestimmt werden können.
Äußeren Risiken war die Sammlung namentlich in den Revolutions- und Reaktionsjahren ausgesetzt, beispielsweise drohenden Anschlägen — das Haus Mauerstraße Nr. 36, wo Onkel und Nichte wohnten, gehörte dem Adjutanten des verhaßten Kartätschenprinzen — , Bränden (vgl. Tbl 8.10.1848; Tb XIV, 48, 17.8.1857) und Hausdurchsuchungen, bei denen die Polizei auch aus Privatwohnungen »Briefschaften, Tagebücher, mißfällige Druckschriften und Bilder« mitnahm (Tb VIII, 425, 17.11.1851; vgl. XI, 124, 27.6. 1854).
Als sein Hauswirt mit einer Kündigung drohte (Tbl 26.–30.9.1854), erwog Varnhagen vorübergehend einen Wegzug von Berlin, fühlte sich jedoch »mit vielen Banden« an den »Hauptschauplatz von Rahel’s Leben« gefesselt (Tbl 16.1.1840, vgl. 12.1.1856). Auch eine Neuformulierung seines Testaments wurde in dieser Zeit erwogen (Tbl 27.2.1853):
In wesentlichen Punkten bin ich durch Rahel’s Bestimmungen, wo nicht äußerlich gebunden, doch innerlich verpflichtet, in andern sind unbestimmte Möglichkeiten zu beachten, die sich mit allem Nachdenken und Eifer nicht auf die richtigen Formeln zurückführen lassen. Und nichts ist mir so zuwider als Zweifel und Verwirrung! Doch weiß ich im Augenblicke keinen Rath! Ich muß es drauf ankommen lassen. —
Faßte Varnhagen in Erbschaftsangelegenheiten den »ungeforderten Rath« Henriette Solmars als »Taktlosigkeit« auf (Tbl 12.10.1853), so blieben auch Absprachen mit seiner Nichte »über den Verbleib meiner Papiere, deren Sicherung« (Tb XII, 202, 8.8. 1855; vgl. die ungedruckte Fortsetzung) zunächst ergebnislos.
Die Erkrankung der Wirtschafterin Dorothea Neuendorf, die Fürsorge, die Ludmilla Assing der von ihr ungeliebten Patientin angedeihen ließ, und der Tod dieser letzten Rahel nahestehenden Persönlichkeit am 4. Februar 1856 bewirkten einen Sinneswandel. Varnhagen begann, die Kästen mit seinen Aufzeichnungen mit Für meine Nichte Ludmilla! zu etikettieren und empfand es als »unangenehm, dort manche tadelnde Stelle über Ludmilla zu finden, die ich heute nicht mehr gelten lassen kann« (Tbl 2.1.1857). Die Nichte ihrerseits hatte ihn längst beschworen, nach seinem Ableben habe sie »›auch nicht viel mehr in der Welt zu thun, ich besorge noch bestens deine Papiere, und dann komme ich dir nach‹« (Tb XI, 278, 20.10.1854).
Die letzte urkundlich nachgewiesene Änderung des am 16. November 1842 niedergelegten Testamentes fand am 21. September 1853 statt. Doch fehlt in den Akten des Kammergerichts das Testament selbst, und auch die Protokolle scheinen unvollständig zu sein. Varnhagens letztwillige Verfügung geriet nämlich während des Skandals um den Humboldt–Varnhagenschen Briefwechsel auf unbekannte Weise in die Presse. Das veröffentlichte Kodizill (Anhang 5) — wegen des Bezugs auf »Mein Testament« zu Beginn vielleicht auch nur ein eigenhändiges Exzerpt — datiert vom 10. Mai 1856.
Ein halbes Jahr später verfaßte Varnhagen eine zusätzliche Schenkungserklärung (Anhang 6) und behielt sich darin nur noch den Nießbrauch der Sammlung vor. Jetzt erst wurde auch der literarische Nachlaß Rosa Marias, der Mutter Ludmilla Assings, integriert (Tbl 1.2.1857):
Ludmilla brachte ein ganzes Paket Familienpapiere, die wir miteinander durchsahen, unter lebhaften, verschiedenartigen Empfindungen. Viel hat sich verloren, aber es ist zu verwundern wie viel sich noch erhalten hat. Meine Schwester war eine sorgfältige Bewahrerin. Schade, daß alle unsre Vorräthe keine sichre Stätte, keine weiteren Familienerben hat, als eben nur uns! Fremde Hände werden es nicht beachten. —
Von nun an verfügte ein knappes Vierteljahrhundert lang Ludmilla Assing über das Archiv. Nachdem Varnhagen verstorben war (10. Oktober 1858), mußte sie dessen Wohnung aufgeben und ließ vor ihrem Umzug in die Potsdamer Straße einen Teil der Bibliothek, wie es heißt, insgesamt 2500 Titel, versteigern. Es gelang ihr, das Übrige zusammenzuhalten, beträchtlich zu vermehren und vor der drohenden Beschlagnahme durch preußische Behörden ins Exil zu retten. Der in Berlin verbliebene Hausdiener Ganzmann besorgte im Herbst 1862 den konspirativen Versand über die Schweiz. Am 22. November meldete sie den Empfang:
Ein Theil meiner Sachen noch nicht ausgepackt, sind vor kurzem glücklich angelangt, und ich hoffe bald, nach vieler Unruhe hier leidlich behaglich eingerichtet zu sein. Aber wie vieles muß man im Stich lassen: meine Vögel, meine Möbel und so vieles Andere.
In Florenz wurde die Sammlung kompetent verwaltet und stand z. B. interessierten Heine–Forschern offen. Im letzten Band der Ausgewählten Schriften ihres Onkels bemerkte die Herausgeberin rückblickend, ihr sei »die Veröffentlichung seiner Werke und seines Nachlasses [...], unbeirrt durch manche Angriffe, zur Lebensaufgabe« geworden (AW XIX, 360); zu dieser gehörte auch die Tradierung seiner Sammlung.
Angebote von Kaufinteressenten wies Ludmilla Assing ab und verschenkte — anders als ihr Onkel, der mitunter gegen Autographen kleinere Rahel–Billets getauscht hatte — , allenfalls einmal Humboldts Namenszug auf einem Umschlag. Die Rückgabe von Originalen an die Absender suchte sie zu vermeiden, beachtete jedoch entsprechende Einzelverfügungen (Anhang 7): Ernst von Pfuel brachte sie dessen Aufzeichnungen aus dem Revolutionsjahr zurück; mit Varnhagens Brieffreundin Charlotte Williams Wynn verständigte sie sich über den Verbleib der Briefe in der Sammlung.
Ihr selbst hingegen wurden Teile des literarischen Nachlasses von Fürst Pückler-Muskau durch Marie von Pachelbl–Gehag testamentswidrig vorenthalten. Auch Ludmilla Assings langjähriger Verleger mißbrauchte ihr Vertrauen, als er die Biographie des Firmengründers Friedrich Arnold Brockhaus schrieb und dessen Briefe an Varnhagen erbat. Eduard Brockhaus behielt sie stillschweigend ein und hinterließ folgende Notiz:
Sie schickte mir die Originale, um deren Rücksendung bittend. Diese ist aber nicht erfolgt. Zunächst hoffte ich schriftlich oder persönlich von ihr zu erreichen, daß sie sie uns gegen unsere Abschriften überlasse, was mir wol auch gelungen wäre, dann hielt mich ihre 1874 erfolgte unsinnige Verheirathung und der Scandal, der sich daran knüpfte, ab, zumal sie daran nicht erinnerte [...]. Bald hieß es, sie habe ihren Nachlaß der Stadt Florenz vermacht, bald, daß sie den literarischen Nachlaß ihres Onkels Varnhagen der Königl. Bibliothek in Berlin vermacht habe. So behalten wir die Briefe noch ruhig, bis Jemand danach fragt.
Nach Preußen, wo Ludmilla Assing ihrer Publikationen wegen steckbrieflich verfolgt, zu Haftstrafen verurteilt und gesellschaftlich geächtet wurde, mochte sie nach einigem Zögern nicht zurückkehren. Trotz ihrer Amnestierung beteuerte sie, »doch wahrlich das gegenwärtige Berlin durchaus für keinen sichern Aufbewahrungsort meiner Papiere« zu halten. Dennoch entsprach sie den in der Erbfolgeregelung seines Testaments formulierten Wünschen ihres Onkels (Anhang 5), als sie im Juli 1872 beschloß, ihr Vermächtnis der Königlichen Bibliothek anzubieten.
Damals verpflichtete sie die künftigen Verwalter, die Sammlung gesondert aufzustellen, zusammenzuhalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen (Anhang 8). Ausführlich begründete die Erblasserin am 15.7.1876, weshalb sie die Sammlung nicht in Italien, ihrer zweiten Heimat beließ (Anhang 9). Bei Nichterfüllung sollte das Legat der Kantonsbibliothek Zürich zufallen, wobei ihr — einem älteren, gleichlautenden und ihren damaligen Ehemann Cino Grimelli nur finanziell begünstigenden Testament zufolge — besonders wichtig war, daß ihre Landsleute dorthin leicht anreisen können (»dove sarebbe sempre facile pei miei compatriotti di recarsi«).

Die Fußnoten und den Anhang Die Sammlung Varnhagen in Testamenten und Verfügungen finden Sie im Almanach der Varnhagen Gesellschaft 1, Berlin Verlag Arno Spitz 2000, S. 261–271.

 

 

23.11.2003

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