Almanach 1: beim Verlag noch lieferbar
Wenn die Geschichte um eine Ecke geht. Hg. v. Nikolaus Gatter unter
Mitarbeit von Eva Feldheim und Rita Viehoff. Berlin: Berlin Verlag
Arno Spitz GmbH 2000, 320 S., 44 Abb., kart. 48,- DM ISBN 3-8305-0025-4;
ISSN 1439-6254
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Besprechung in hsozkult
Almanach 2(2002):
Makkaroni und Geistesspeise. Hg. v. Nikolaus Gatter unter Mitarbeit
von Christian Liedtke und Elke Wenzel. Berlin: Berlin Verlag Arno
Spitz GmbH 2002, 424 S., Abb., kart. 35,- Euro, ISBN 3-8305-0296-6;
ISSN 1439-6254
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Besprechung in hsozkult
Almanach 3(2015):
Der Sopha schön, und doch zum Lottern.
Hg. v. Nikolaus Gatter unter Mitarbeit von Inge Brose-Müller und Sigrun Hopfensberger. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2015, 528 S., Abb., kart.
49,- Euro, ISBN 978-3-8305-0579-2
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Besprechung in hsozkult
Paris, 1810.
K.A. Varnhagen von Ense: Reiseberichte aus Straßburg, Lothringen und Paris mit neun Briefen an den Autor von Henriette Mendelsohn.Hg. v. Nikolaus Gatter.
Köln 2013, 88 S., kart., 10,00 Euro, ISBN 978-3-00-040929-5
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Leseprobe aus Almanach 1
Nikolaus Gatter
»...sie ist vor allen die meine...«
Die Sammlung Varnhagen bis zu ihrer Katalogisierung (aus Almanach
1)
(Auszug)
Mögen ihr, wie Ludwig Stern feststellte, die »berühmten
Namen des 17. und 18. Jahrhunderts, die auf dem Autographenmarkte
am höchsten geschätzt werden« (Stern, XII), fehlen:
Die Varnhagen von Ensesche Sammlung zählt zu den wohl größten
und gehaltvollsten bürgerlichen Privatarchiven. Schon die hier
vereinten Nachlässe des Ehepaars Rahel und Karl August Varnhagen
von Ense, des Fürsten Hermann von PücklerMuskau,
Ludwig Roberts sowie Rosa Maria und Ludmilla Assings um nur
die wichtigsten Beiträger zu nennen bilden, gemeinsam
mit der Überlieferung ihrer Zeitgenossen, eine Kollektion von
unschätzbarem kulturgeschichtlichem Wert.
Doch das Sammelinteresse greift weiter zurück und voraus: von
der Frühaufklärung über den Sturm und Drang zu Klassik
und Romantik, vom Vormärz über die Revolution von 1848/49
bis hin zu den Anfängen der Arbeiterbewegung. Es galt so heterogenen
gesellschaftlichen Gruppen wie dem aufgeklärten Adel und dem
liberalen Judentum, der preußischen Generalität und der
jungdeutschen Opposition. Weltliterarische Perspektiven ergaben
sich durch Varnhagens russische Studien, seine Verbindungen nach
England, Frankreich, in die Vereinigten Staaten und durch das italienische
Exil seiner Nichte und Nachlaßverwalterin. Mit Teilnachlässen
und wertvollen Einzelgaben haben neben zahlreichen anderen Zeitgenossen
Bettine von Arnim, Helmina von Chézy, Heinrich Karl Abraham
von Eichstädt, Alexander von Humboldt, Apollonius von Maltitz
und Johannes Schulze zu diesem Archiv beigetragen. Ihren Briefschaften
diente es nach einer glücklichen Formulierung Barbara
Hahns als »Sammelstelle [...] eine
Post sozusagen , die dann das Verschicken an die Nachwelt
in angemessener Form organisiert«.
Da ein im Oktober 1880 erstelltes Inventar bei der Überführung
von Florenz nach Berlin verlorenging, kann der Umfang derzeit nur
geschätzt werden. Genauer als Ludwig Sterns Katalog kann es
nicht gewesen sein, der immerhin Briefe von und an ca. 9000 Personen
verzeichnet. Manche von ihnen sind nur mit exemplarischen Einzelblättern,
andere mit hundertblättrigen Konvoluten vertreten. Hinzu kommen
die 2841 oft seltenen und handschriftlich annotierten Bücher
der Bibliothek Varnhagen, ferner ein Ölbild, ca.
dreißig Temperaporträts, mehrere Medaillons, eine Büste,
Bleistiftzeichnungen, Kupferstiche, Ausschnitte aus illustrierten
Zeitschriften, Scherenschnitte in Bunt- und Schwarzpapier, ein collagiertes
Visitenkartenalbum, Daguerreotypien, ein Globus, eine Tabaksdose
sowie ungezählte Artikel aus teils verschollenen oder von der
Zensur unterdrückten Journalen.
Allein von Rahel Varnhagen sollen rund 6000 Handschriften existieren.
Bilden die an sie gerichteten Briefe zusammen mit der politischliterarischen
Korrespondenz ihres Ehemanns bis 1833 gleichsam den Grundstock
der späteren Sammlung Varnhagen, so wäre es doch allzu
vereinfachend, diese schlechthin mit »ihrem Nachlaß«
gleichzusetzen. Die reiche Überlieferung dieses Lebenswerks
ist vielmehr dem jahrzehntelangen Bemühen des Witwers zu verdanken,
Rahels Originalbriefe oder Abschriften von den Empfängern einzufordern,
sie mit den an sie gerichteten Briefen zu vereinigen, sie zum Druck
vorzubereiten und ihnen durch Auswahleditionen, die von Ludmilla
Assing fortgesetzt wurden, ein Lesepublikum zu gewinnen.
Anweisungen zum editorischen Umgang mit der so vervollständigten
Korrespondenz finden sich in großer Zahl in den RahelKonvoluten
der Sammlung. Einige sind aus programmatischen Vorworten der Nichte
zu ihren Briefausgaben bekannt (vgl. GW IV, XXIII; VIII, VVIII),
weitere wurden von Ursula Isselstein veröffentlicht und analysiert.
Manches spricht dafür, nicht zuletzt die rasch erfolgte Publikation
und der Titel ohne Nennung eines Herausgebers, daß die Konzeption
von Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde bereits
vor oder während ihrer letzten schweren Krankheit erfolgte.
»Alles Praktische«, meint Isselstein, »was mit
der Herausgabe, dem Druck und der gezielten Verteilung ihrer Schriften
zu tun hatte, überließ Rahel in der Regel den kompetenten
Händen ihres Mannes.« Dessen philologische Leistung war
zugleich persönliche Erinnerungsarbeit. Das Kommentieren, Abschreiben,
Ordnen und Überliefern der Lebenszeugnisse wurde oft als sogenannter
RahelKult mißverstanden und am nachhaltigsten
durch Hannah Arendt verunglimpft. Dabei soll die Absicht
zugrunde gelegen haben, Rahels Persönlichkeit zu idealisieren,
der Nachwelt ein stilisiertes oder verfälschtes Bild von ihr
zu hinterlassen. Dieser Intention folgend hätte Varnhagen,
dessen Biographien seinen literarischen Ruhm begründeten, sinnvollerweise
die ihm zur Verfügung stehenden Briefe in einer Lebensschilderung
zusammengefaßt und anschließend vernachlässigt,
statt sie getreulich zu überliefern.
Daß Rahels Haltung zum Judentum oder zum weiblichen Geschlecht
kritischer gewesen sein soll, als das Buch des Andenkens erkennen
ließ, reicht zum Nachweis einer aktiven Stilisierung ebensowenig
aus wie die Verwendung von Namenskürzeln, die im Handexemplar
für die künftige Wiederherstellung aufgelöst sind.
Gegen literarische Verklärungen Rahels hat Varnhagen mehrfach,
wenn auch nicht öffentlich, Einspruch erhoben. Das Vierteljahrhundert
seiner Nachlaßverwaltung hätte ihm ausreichend Gelegenheit
geboten, alles dem vermeintlichen Idealbild Widersprechende zu tilgen.
Doch hob der pietätvolle Sammler jedes Streitzettelchen
Rahels auf, sogar die über ihn selbst absprechenden Urteile
ihrer Freunde.
Und wenn mitunter tatsächlich Briefe unauffindbar oder Schwärzungen
im minimalen Umfang weniger Worte oder Sätze festzustellen
sind, sollte nicht leichtfertig von Zensur oder Vernichten
geredet werden: All diese Lebenszeugnisse wurden zunächst nicht
als literarische und öffentliche, sondern als private und persönliche
gesammelt. Über Publikation oder Tradierung entschieden, und
zwar sehr umsichtig, alle Stifterinnen und Stifter, aus unterschiedlichsten
Motiven, zuletzt erst die aufeinanderfolgenden Erblasser.
Arendts These blieb jedoch unwidersprochen, nachdem die Sammlung
im Zweiten Weltkrieg nach Schlesien ausgelagert wurde und für
rund vierzig Jahre als verschollen galt. Heute stellt sich im Vergleich
mit den Handschriften heraus, daß Arendt ihrerseits Zitate
polemisch verfälscht hat, um die Varnhagensche Ehe in Mißkredit
zu bringen, und die Publikationen Ludmilla Assings geradezu ignorierte.
Bei unvoreingenommener Betrachtung erscheint es gar nicht so ungewöhnlich,
wenn der Witwer das Andenken der Verstorbenen als »Lebensinhalt«
(Tb VII, 145, 24.4. 1850), die Verwaltung ihrer Handschriften
mit »vielem anderen, was mir auch obliegt!« als
sein »wahres Leben« bezeichnete. Der Sammlerfleiß
war durch sein intimes Verhältnis zur Autorin ebenso gerechtfertigt
wie durch die Texte selbst und durch die Persönlichkeit, die
sich in ihnen ausspricht. Diese in »ein richtiges Gesammtbild«
zu fassen, sah sich Varnhagen außerstande (Tbl 6.2.1843),
notierte jedoch an ihrem fünfzehnten Todestag (7.3.1848): »Das
Beste, was mich innerlichst freut und befriedigt, ist dies, daß
es mir gelungen, Rahels Andenken für die Welt daurend festzustellen!«
Daß er damit auf Wunsch und im Sinne der Autorin handelte,
die sich auch ohne schriftstellerischen Ehrgeiz der literarischen
Geltung ihres Schreibens bewußt war, geht aus vielen Andeutungen
hervor. Das postume Aufspüren »durch List etwa«
ihrer Korrespondenzen, die sie für »eine Original=Geschichte
und poetisch« hielt, hatte sie schon im Juli 1800 ihrer Freundin
Wilhelmine von Boye aufgetragen (GW I, 208). Die oft zitierten Verfügungen
über ihren Briefwechsel mit Pauline Wiesel (vgl. GW II, 393)
kein Testament und mitnichten ihr letzter Wille zielten
ebenfalls auf das Zusammenführen und Aufbewahren, das später
der Witwer besorgen sollte. Nachdem ihm Pauline Wiesel 1833 die
Teilnahme an der ersten Nachlaßpublikation, dem Buch des Andenkens,
ausdrücklich versagt hatte, ließ sie sich 1841 zu einem
Verkauf von 55 RahelBriefen an den Herausgeber bewegen.
Ob und in welchem Umfang die Sammlung schon bei Rahels Tod am 7.
März 1833 strukturiert war, läßt sich nur vermuten.
Kopien ihrer ausgehenden Post hat Rahel offenbar nicht angefertigt.
Die an sie gerichteten Briefe hat sie, in einem wechselvollen, von
Kriegen, Reisen, Orts- und Wohnungswechseln geprägten Leben,
sorgfältig aufbewahrt. Nach ihrer Heirat blieb die Archivierungspraxis,
über die auch neuere Briefeditionen keinen Aufschluß
geben, wohl nicht unbeeinflußt vom Diplomatenberuf ihres Ehemanns.
Als preußischer Ministerresident am Badischen Hof hatte Karl
August Varnhagen von Ense neben seinen politischen Berichten eine
ausführliche, teils vertrauliche Korrespondenz und entsprechend
sorgfältige Ablage führen müssen. Nach seiner Abberufung
und Versetzung in den Wartestand kehrte das Paar 1819 nach Berlin
zurück. In der Folgezeit erschienen erstmals aphoristische
Auszüge aus Rahels Briefen im Morgenblatt für gebildete
Stände, in Ludwig Börnes Wage und anderen literarischen
Zeitschriften (vgl. GW X, 452).
Unmittelbar nach Rahels Tod verlegte sich der um sein Lebensglück
Trauernde ganz auf die editorische Arbeit. Sechs Wochen später,
als Varnhagen erste Kondolenzen beantwortete, wurde auch das Vorhaben
erwähnt, »eine Sammlung zu Rahels Andenken drucken zu
lassen, die beinahe fertig liegt«. War die in den Nachlaß-papieren
»sichtbare Geistigkeit noch das Einzige, was dem Gemüth
eine Täuschung, einen Wahn von Trost gewährt«, so
hätte der Witwer gewiß lieber »Alles [...] um einen
Blick, einen Laut, eine Umarmung« hingegeben.
Zweieinhalb Monate später betonte er gegenüber Fanny Tarnow,
der Druck sei bereits »zu weit vorgerückt, als daß
ich von dem, was Sie mir schicken, noch etwas dafür benutzen
könnte; ich mußte mich auf das beschränken, was
gleich zur Hand war«. RahelBriefe an die Dresdner Autorin
enthielt dennoch bereits die erste, einbändige Ausgabe (vgl.
BA 388ff., 484f.). Im Herbst 1833 wurde sie an die im Titel angesprochenen
Freunde, vorwiegend Korrespondenzpartner Rahels, kostenlos verteilt.
Im Dezember desselben Jahres unterzeichnete Varnhagen das Vorwort
der im Frühjahr 1834 ausgelieferten dreibändigen Buchhandelsausgabe
(GW I, IV).
An der Veröffentlichungsintention der Autorin lassen ihre 1831
formulierten testamentarischen Bestimmungen (Anhang 1) mit eigens
disponiertem Druckkostenzuschuß keinen Zweifel. Der Rekurs
auf die »hierüber vorfindlichen Angaben« bestätigt
vielmehr die Vermutung, daß ein gemeinsam erarbeitetes Editionskonzept
vorlag, das beim vor- oder gleichzeitigen Tod des Universalerben
durch Rosa Maria Assing realisiert werden sollte: Rahels Schwägerin,
deren »edles, stilles, konsequentes Wesen und Leben«
sie bewunderte, war ihr Vermächtnis in der Erbfolgeregelung
zugedacht. Varnhagens ergänzende Verfügungen von 1837
über den Umgang mit der Sammlung (Anhang 2) richteten sich
daher zunächst an seine Schwester in Hamburg, die ihre editorische
Kompetenz bereits mit Briefen Chamissos unter Beweis gestellt hatte,
und wurden später unverändert auf ihre jüngste Tochter
Ludmilla übertragen.
Der Ehemann David Assur Assing wird in Rahels Erbfolgeregelung nur
zusammen mit den Kindern erwähnt und war offenbar nie als editorischer
Betreuer vorgesehen. Bei Rosa Marias frühem Tod war es daher
Varnhagens erste Sorge, für den Fall seines eigenen Ablebens
die Aufsicht über die Verwaltung der Nachlaßpapiere durch
eine der Nichten zu gewährleisten (Anhang 3). Doch im folgenden
Jahr starb auch deren Vater, und die verwaisten Schwestern mußten
noch den Brand von Hamburg erleben, bevor Ottilie den Entschluß
faßte, mit ihrer jüngeren Schwester Ludmilla nach Berlin
zu übersiedeln. Dies geschah 1842, und im selben Jahr bezeichnete
Varnhagen sein Archiv erstmals als Autographensammlung (Anhang 4).
Interesse für Autographen hegte er schon als Student: 1804
schrieb sich Achim von Arnim in sein »Stammbuch [...], das
wie die Lade einer Meistergilde voll Dichterhandschriften war«.
Seine biographischen Schriften empfahlen Varnhagen als Redakteur
und Herausgeber: Literarische Projekte, die man ihm antrug, waren
u. a. die Herausgabe von Briefen Georg Kerners, die erst
infolge seiner Absage von Karl Lachmann übernommene
LessingWerkausgabe, die von ihm selbst mitfinanzierte Edition
der Denkwürdigkeiten Johann Benjamin Erhards bis hin zum Leben
des Generals Grafen Bülow von Dennewitz, für dessen Schilderung
das Bülowsche Familienarchiv zur Verfügung stand. Nicht
selten wurden Varnhagen ganze Nachlässe zur Auslese überlassen.
Auch von seiner verstorbenen Schwester Rosa Maria heißt es
in einem Nachruf: »Briefe zu sammeln und aufzubewahren, hatte
für sie den Reiz, als sollte sie jedem ihrer Freunde Biograph
sein.«
Doch fiel der Ausbau persönlicher, dem unmittelbaren Lebenskreis
zugehöriger Briefschaften zum umfassenden Archiv eigener, familiärer,
fremder und historisch überlieferter Lebenszeugnisse erst in
die frühen vierziger Jahre. Ein zufälliges Erlebnis gab
vermutlich den Anstoß (Tb I, 317, 23.7.1841): Von Sydney Morgan,
die er im Auftrag einer Freundin um eine Handschriftenprobe bat,
erhielt Varnhagen »etwas ganz Persönliches«, weshalb
er »das Blatt behalten« und ein weiteres erbitten mußte,
»um doch meiner Bestellerin auch etwas geben zu können«.
Im folgenden Jahr teilte er Troxler mit, er sei »seit kurzem
erst [...] Autographensammler geworden, und je mehr ich versäumt
habe, dadurch, daß ich es nicht früher geworden, desto
heftigeren Eifer bring ich jetzt zu der Sache«. Karl
Rosenkranz erwiderte auf eine ähnliche Mitteilung: »Ich
kann mich eigentlich nur wundern, daß Sie dies erst jetzt
anfangen, weil es bei Ihnen viel natürlicher, als bei Andern,
ist.« Ausführliche Wunschlisten erhielten seine Bekannten
in ganz Europa, darunter Heine, Carlyle, Hebbel, Alexander Weill,
David Ferdinand Koreff, Amely Bölte, Marie dAgoult und
der Verleger Cotta, von dem sich Varnhagen statt Buchgeschenken
zum Geburtstag Autographen erbat. Zusendungen erhielt er auch aus
Rußland, den Vereinigten Staaten und Indien.
Bald waren reichhaltige Bestände zu verzeichnen, »im
Ganzen über achthundert Stück, größtentheils
aus eigenen Briefwechseln entlehnt, dann aus Rahels, Erhards,
Roberts, der Frau von Grotthuß Papieren, aus Geschenken
Alexander von Humboldt[s] etc.« (Tbl 25.11.1841). Vier Jahre
später besaß Varnhagen »über fünftausend
Blätter und darunter sehr wichtige, seltene, einzige«.
Varnhagens Tagesblätter tägliche Aufzeichnungen
auf verschiedenfarbigen, engzeilig beschriebenen Blättern
thematisieren häufig den Erwerb, die Sicherung und Verwaltung
solcher Lebenszeugnisse, ihre Lektüre und Editionsproblematik.
Eine Gesamtausgabe dieser Chronik könnte, wie Heinrich Hubert
Houben meinte, »das ganze [...] Gebiet des übrigen handschriftlichen
Nachlasses« (Tb XV, VII) und »von diesem Gesichtspunkte
aus [...] seine ganze literarische Tätigkeit« erschließen.
Auch an anderer Stelle hat sich Varnhagen programmatisch über
seine Sammlung geäußert. Da es ihm widerstrebte, seinen
Besitz durch Ankäufe zu vermehren, pflegte er zu tauschen und
verständigte sich mit Gleichgesinnten wie Heinrich von der
Tann, Richard Zeune und anderen (Tb X, 160, 22.5.1853; XIII, 198,
24.10.1856). Dagegen reagierte der Sammler bestürzt, wenn er
von Versteigerungen hörte (vgl. Tbl 25.9.1857) oder gar eigene
oder Rahels Briefe in Auktionskatalogen annonciert fand (19.10.1840;
19.1.1852).
Nicht vergleichbar waren seine Ordnungsprinzipien mit denen der
Kollektion des Generals von Radowitz. Dieser Sammler bevorzugte
die »eigenhändigen Schriftzüge der großen
geistigen Agitatoren [...], mit welchen sie einst die Gedanken ihrer
Zeitgenossen gelenkt« und »der Gewaltigen, deren Rathschluß
oder Degen das Schicksal der Welt bestimmt hat«. Seine Systematik
folgt einer Hierarchie der Berufe und Stände, in der große
Verbrecher und moralisch verwerfliche Frauen nicht
fehlen. In Abgrenzung zu Radowitz hielt Varnhagen an seinem subjektiven
Erfahrungshorizont fest, als er »den Aufsatz über Autographen«,
den er schon vom Erstdruck her kannte (vgl. Tb III, 397f., 23.7.1846),
erneut las (IX, 369, 15.9.1852):
In letzterem giebt er Weisungen und Ansichten, die für mich
ohne Werth sind; meine Sammlung ist eine andre, als er meint, sie
ist vor allen die meine, nach meinen Verhältnissen, Absichten
und Gelegenheiten.
Dieses persönliche, zunächst an den eigenen und Rahels
Lebenskreis gebundene Interesse nahm keine Rücksicht auf die
allgemeinhistorische Relevanz von Schriftstücken oder gar die
Prominenz ihrer Verfasser (Anhang 4). Auch ihr antiquarischer Wert
war nicht ausschlaggebend: »Des Nächstvergangenen nicht
zu achten ist unser schlimmer Fehler«, notierte Varnhagen
über die literaturgeschichtlichen Bestrebungen seiner Zeit
(Tb XI, 114, 19.6.1854). In der überschwenglichen Hoffnung,
ein Surrogat des ihnen innewohnende Lebens zu spüren,
ließ er sich den Erhalt von Briefschaften der Zeit um 1800
besonders angelegen sein:
Aus jener Zeit stammte seine Bekanntschaft mit Rahel, und für
all diese Bekanntschaften hegte Varnhagen eine sorgfältige
Pietät. [...] Die Rettungen Lessings waren
für Varnhagen ein Lieblingsgedanke, und in dieser Richtung
waren die Gespräche mit ihm stets interessant. Das Menschliche
herauszufinden, das Dauernde abzusondern, das Verwegene zu entdecken,
war ihm stets angelegen [...].
Auf solche Weise »das wahre Lebensbild einer Zeit, eines Kreises«
zu überliefern (BPG II, 68, 19.3.1822), »daß auch
der Fremde und Spätlebende nach und nach in einer solchen wirklichen
und durch geistige Ueberlieferung zugleich idealen Gesellschaftswelt
endlich ganz einheimisch werde und mitlebe«, war das heimliche
Grundmotiv des Sammelns, nicht der literarische Rang oder historische
Quellenwert (Tb II, 351f., 31.8.1844):
Meine Sorgfalt für alles Litterarische ist doch eigentlich
nur Gleichgültigkeit für dieses; denn es gilt mir nur
als bewahrende Schale eines darin liegenden Lebenskernes, und wo
nur irgend ein solcher mich anglänzt, möcht ich
jene Schale schützend um ihn her legen! Es geht nothwendigerweise
so viel verloren, laßt uns einiges zu retten suchen! laßt
uns Bäume pflanzen, die Schatten geben; wenn man auch einst
sie niederhaut!
Der »Geist des diesen Blättern anvertrauten Lebens«
(Tbl 5.4.1841), der »elektrische Strom, der aus diesen alten
Blättern in meine Seele fuhr« (Tb IX, 170, 18.4.1852),
berauschte Varnhagen bei den Korrespondenzen Pauline Wiesels. Doch
nicht diese verschafften der Sammlung einen Ruhm, der ihr noch das
Jahrhundert der Weltkriege überstehen half, sondern die Handschriften
oft erst nachträglich kanonisierter Autoren von spektakulärer
Geltung. Die Briefe von Fürsten und Staatsmännern, Dichterheroen
und Philosophen von Weltgeltung machten es möglich, Lebenszeugnisse
gebildeter Frauen und Juden, oppositioneller Demokraten und Revolutionäre
und »von allen den vielen, von denen sonst kaum eine Spur
geblieben« wäre (Stern, XII), zu erhalten.
Entsprechend zeigte sich auch Ludmilla Assing mutig genug, Pauline
Wiesels Briefe im Kontext mit denen von General Gneisenau, Tieck
und Wilhelm von Humboldt zu drucken. Zwar begann ihre Nachlaßpublikation
mit der Korrespondenz des erst wenige Wochen zuvor verstorbenen
Alexander von Humboldt, doch dessen Weltruhm konnte nicht verhindern,
daß er gerade dadurch aus dem offiziösen Kanon herausfiel.
Das preußische Königshaus verzichtete auf den Ankauf
seiner wissenschaftlichen Sammlungen, und im Gedenkjahr 1869 durfte
ihm nicht einmal ein Denkmal in Berlin errichtet werden. Wäre
es ihr nur um den Nachruhm des Onkels gegangen, hätte die Herausgeberin
für ihre Publikationsreihe Aus dem Nachlaß Varnhagens
von Ense auf dessen unverfängliche GoetheKorrespondenz
zurückgegriffen. Nach einer Sichtung des Konvoluts notierte
Ludwig Geiger verwundert, daß manche Briefe Goethes »wie
es scheint auch von der sonst sehr druckbereiten Ludmilla Assing
nicht gedruckt« wurden.
Gegen Varnhagens Sammlung polemisierte die reaktionäre Partei
schon zu dessen Lebzeiten. So kolportierte die Kreuzzeitung eine
angeblich von Alexander von Humboldt stammende Äußerung.
Dieser soll der Nichte eines autographensammelnden Onkels
einen Streich gespielt haben, indem er ihr die Handschrift eines
unbedeutenden Postbeamten namens Zöppken aufnötigte: »denn
ihr einen Zopf zu machen, hatte ich mich denn doch nicht unterstanden«.
Humboldt, der Varnhagen auch viele der an ihn gerichteten Schreiben
überließ, dementierte umgehend diese Polemik. Damit wurde
die zugleich als antiquiert und verzopft abgewertete
Sammeltätigkeit erstmals publik.
Varnhagens Äußerungen lassen keineswegs auf zeremoniösen
oder elitären Umgang mit der Sammlung schließen. Vor
ihrer Systematisierung wollte er »die sämmtlichen Briefe
von Goethe, Schiller, Jacobi, Fichte, Rahel, Humboldt, Wolf, Voß
u.s.w. in Eine große Sammlung chronologisch vereinigt, und
noch mit Erläuterungen ausgestattet sehen« (Tb I, 241,
5.12.1840). Angesichts von Faksimiledrucken wünschte er »jedem
Artikel ein eignes Blatt bestimmt und diesem die nöthigen Erläuterungen
ebenfalls selbständig beigegeben« sowie »die Möglichkeit,
die einzelnen Artikel nach Gutdünken und Eigenwahl zusammenzustellen«.»Schon
der Mangel an Raum hindert mich«, konstatierte er beim Ordnen
von Rahels Nachlaß (Tbl v. 26.6.1857); »es müßte
alles auseinander gelegt werden, alles offen daliegen, um nachschlagen,
vergleichen, ordnen zu können, ich müßte mehrere
Abschreiber haben, vielfache Hülfsmittel vereinigen etc.«
Dieser offenen, kompilatorischen Struktur war auch seine Systematik
verpflichtet. Varnhagen legte die Papiere alphabetisch ab; seine
Sammlung »dokumentiert, was das Schreiben an und aus einem
Zentrum ausgrenzt« und überliefert somit auch jene Namen,
»die sonst durch die Maschen der Tradierung fallen«.
Die heute vorfindliche Gliederung ist allerdings das Werk Ludwig
Sterns und seiner Nachfolger; sie läßt kaum Rückschlüsse
auf die einstige Anordnung zu. Hier müssen zeitgenössische
Quellen herangezogen werden. Anschaulich hat z. B. Lassalle in einem
Brief an Karl Marx die um biographisches Material ergänzten
Bestände geschildert:
Varnhagen, der unermüdlichste Notizensammler der Welt, hat
über fast alle, nur einigermaßen bekanntere Menschen
in einem alphabetisch geordneten Register sich Züge ihres biographischen
Materials usw. zusammengestellt. Er hat es endlich über alle
solche Menschen, von denen er Autographen besaß, als Anhang
zu dieser Sammlung. Ich begab mich also sofort zu seiner Nichte
( die übrigens Grund hat zu wünschen, daß
nicht einmal von dem Dasein dieser Notizensammlungen jemand etwas
erfahre; Du stellst natürlich eine Ausnahme dar, die aber nicht
zu erweitern ist) und bat um Nachschlagung des Artikels Zabel. Aber
obwohl sogar Autographen von ihm da sind, hat dieser Mensch ein
so armes leeres Leben, daß über ihn allein sich kein
Wort in der Notizensammlung findet.
Nach den Erinnerungen seines Hausarztes bewahrte Varnhagen die Autographen
und beigefügten Anekdotenzettel in einem »großen
Wandschrank« auf, der auch die »schwarzen Pappkasten«
seiner TagesblätterChronik barg:
Im Laufe der Unterhaltung pflegte er dann, wenn ihm ein Name, ein
Datum oder eine Person entfallen war, den Schrank zu öffnen
und seine Cartons hervor zu langen. So groß aber war die Ordnung
in diesen Papieren, daß er stets das Gewünschte fand.
Zu deren Vermehrung trugen auch die aus Hamburg zugezogenen Nichten
bei, selbst Ottilie Assing, die im August 1843 im Streit das Haus
verließ und später nach Amerika auswanderte. Doch damit
nahm ihre Schwester Ludmilla noch keineswegs umstandslos die Rolle
der Universalerbin ein. Krisen und Störungen ihres Einvernehmens
mit dem Onkel lassen sich in dessen Tagesblättern nachvollziehen,
die seine Nachlaßverwalterin, hier und da mit apologetischen
Randbemerkungen versehen, getreulich überlieferte (Anhang 7).
Ihren Umgang mit Schriftstellern des Jungen Deutschland tolerierte
er, auch wenn »feindliche Persönlichkeiten« darunter
waren »wie z.B. Gutzkow« (Tbl 5.3. 1844), für dessen
Telegraph Ludmilla Assing seit 1846 schrieb. Die Formulierung seines
Testaments, für die Varnhagen zwei Tage benötigte (vgl.
Tbl 11.11.1842), war wohl ebenso vom literarischen Interesse seiner
Nichten mitbestimmt wie von der Eventualität ihrer Verehelichung
mit befreundeten Autoren. Das Zerwürfnis mit Ottilie ließ
es ihm »besonders wichtig« erscheinen, »daß
mein litterarischer Nachlaß gesichert werde, nicht der leichtsinnigen
Unordnung und Fahrlässigkeit anheimfällt« (Tbl 5.8.1843).
Die jüngere Nichte assistierte ihm beim Abschreiben von Pückler
Handschriften, worauf Varnhagen erneut »ernstliche Überlegungen
[...] wegen meines Testaments« anstellte (Tbl 12.1.1847):
Ich fand am Ende gerathen, die jetzigen Bestimmungen das
heißt die durch Nachzettel verfügten bestehn zu
lassen. Vielleicht treten Umstände ein, bei denen ich eine
Hauptänderung vornehmen muß, wo dann auch Nebensachen
neu bestimmt werden können.
Äußeren Risiken war die Sammlung namentlich in den Revolutions-
und Reaktionsjahren ausgesetzt, beispielsweise drohenden Anschlägen
das Haus Mauerstraße Nr. 36, wo Onkel und Nichte wohnten,
gehörte dem Adjutanten des verhaßten Kartätschenprinzen
, Bränden (vgl. Tbl 8.10.1848; Tb XIV, 48, 17.8.1857)
und Hausdurchsuchungen, bei denen die Polizei auch aus Privatwohnungen
»Briefschaften, Tagebücher, mißfällige Druckschriften
und Bilder« mitnahm (Tb VIII, 425, 17.11.1851; vgl. XI, 124,
27.6. 1854).
Als sein Hauswirt mit einer Kündigung drohte (Tbl 26.30.9.1854),
erwog Varnhagen vorübergehend einen Wegzug von Berlin, fühlte
sich jedoch »mit vielen Banden« an den »Hauptschauplatz
von Rahels Leben« gefesselt (Tbl 16.1.1840, vgl. 12.1.1856).
Auch eine Neuformulierung seines Testaments wurde in dieser Zeit
erwogen (Tbl 27.2.1853):
In wesentlichen Punkten bin ich durch Rahels Bestimmungen,
wo nicht äußerlich gebunden, doch innerlich verpflichtet,
in andern sind unbestimmte Möglichkeiten zu beachten, die sich
mit allem Nachdenken und Eifer nicht auf die richtigen Formeln zurückführen
lassen. Und nichts ist mir so zuwider als Zweifel und Verwirrung!
Doch weiß ich im Augenblicke keinen Rath! Ich muß es
drauf ankommen lassen.
Faßte Varnhagen in Erbschaftsangelegenheiten den »ungeforderten
Rath« Henriette Solmars als »Taktlosigkeit« auf
(Tbl 12.10.1853), so blieben auch Absprachen mit seiner Nichte ȟber
den Verbleib meiner Papiere, deren Sicherung« (Tb XII, 202,
8.8. 1855; vgl. die ungedruckte Fortsetzung) zunächst ergebnislos.
Die Erkrankung der Wirtschafterin Dorothea Neuendorf, die Fürsorge,
die Ludmilla Assing der von ihr ungeliebten Patientin angedeihen
ließ, und der Tod dieser letzten Rahel nahestehenden Persönlichkeit
am 4. Februar 1856 bewirkten einen Sinneswandel. Varnhagen begann,
die Kästen mit seinen Aufzeichnungen mit Für meine Nichte
Ludmilla! zu etikettieren und empfand es als »unangenehm,
dort manche tadelnde Stelle über Ludmilla zu finden, die ich
heute nicht mehr gelten lassen kann« (Tbl 2.1.1857). Die Nichte
ihrerseits hatte ihn längst beschworen, nach seinem Ableben
habe sie »auch nicht viel mehr in der Welt zu thun,
ich besorge noch bestens deine Papiere, und dann komme ich dir nach«
(Tb XI, 278, 20.10.1854).
Die letzte urkundlich nachgewiesene Änderung des am 16. November
1842 niedergelegten Testamentes fand am 21. September 1853 statt.
Doch fehlt in den Akten des Kammergerichts das Testament selbst,
und auch die Protokolle scheinen unvollständig zu sein. Varnhagens
letztwillige Verfügung geriet nämlich während des
Skandals um den HumboldtVarnhagenschen Briefwechsel auf unbekannte
Weise in die Presse. Das veröffentlichte Kodizill (Anhang 5)
wegen des Bezugs auf »Mein Testament« zu Beginn
vielleicht auch nur ein eigenhändiges Exzerpt datiert
vom 10. Mai 1856.
Ein halbes Jahr später verfaßte Varnhagen eine zusätzliche
Schenkungserklärung (Anhang 6) und behielt sich darin nur noch
den Nießbrauch der Sammlung vor. Jetzt erst wurde auch der
literarische Nachlaß Rosa Marias, der Mutter Ludmilla Assings,
integriert (Tbl 1.2.1857):
Ludmilla brachte ein ganzes Paket Familienpapiere, die wir miteinander
durchsahen, unter lebhaften, verschiedenartigen Empfindungen. Viel
hat sich verloren, aber es ist zu verwundern wie viel sich noch
erhalten hat. Meine Schwester war eine sorgfältige Bewahrerin.
Schade, daß alle unsre Vorräthe keine sichre Stätte,
keine weiteren Familienerben hat, als eben nur uns! Fremde Hände
werden es nicht beachten.
Von nun an verfügte ein knappes Vierteljahrhundert lang Ludmilla
Assing über das Archiv. Nachdem Varnhagen verstorben war (10.
Oktober 1858), mußte sie dessen Wohnung aufgeben und ließ
vor ihrem Umzug in die Potsdamer Straße einen Teil der Bibliothek,
wie es heißt, insgesamt 2500 Titel, versteigern. Es gelang
ihr, das Übrige zusammenzuhalten, beträchtlich zu vermehren
und vor der drohenden Beschlagnahme durch preußische Behörden
ins Exil zu retten. Der in Berlin verbliebene Hausdiener Ganzmann
besorgte im Herbst 1862 den konspirativen Versand über die
Schweiz. Am 22. November meldete sie den Empfang:
Ein Theil meiner Sachen noch nicht ausgepackt, sind vor kurzem glücklich
angelangt, und ich hoffe bald, nach vieler Unruhe hier leidlich
behaglich eingerichtet zu sein. Aber wie vieles muß man im
Stich lassen: meine Vögel, meine Möbel und so vieles Andere.
In Florenz wurde die Sammlung kompetent verwaltet und stand z. B.
interessierten HeineForschern offen. Im letzten Band der Ausgewählten
Schriften ihres Onkels bemerkte die Herausgeberin rückblickend,
ihr sei »die Veröffentlichung seiner Werke und seines
Nachlasses [...], unbeirrt durch manche Angriffe, zur Lebensaufgabe«
geworden (AW XIX, 360); zu dieser gehörte auch die Tradierung
seiner Sammlung.
Angebote von Kaufinteressenten wies Ludmilla Assing ab und verschenkte
anders als ihr Onkel, der mitunter gegen Autographen kleinere
RahelBillets getauscht hatte , allenfalls einmal Humboldts
Namenszug auf einem Umschlag. Die Rückgabe von Originalen an
die Absender suchte sie zu vermeiden, beachtete jedoch entsprechende
Einzelverfügungen (Anhang 7): Ernst von Pfuel brachte sie dessen
Aufzeichnungen aus dem Revolutionsjahr zurück; mit Varnhagens
Brieffreundin Charlotte Williams Wynn verständigte sie sich
über den Verbleib der Briefe in der Sammlung.
Ihr selbst hingegen wurden Teile des literarischen Nachlasses von
Fürst Pückler-Muskau durch Marie von PachelblGehag
testamentswidrig vorenthalten. Auch Ludmilla Assings langjähriger
Verleger mißbrauchte ihr Vertrauen, als er die Biographie
des Firmengründers Friedrich Arnold Brockhaus schrieb und dessen
Briefe an Varnhagen erbat. Eduard Brockhaus behielt sie stillschweigend
ein und hinterließ folgende Notiz:
Sie schickte mir die Originale, um deren Rücksendung bittend.
Diese ist aber nicht erfolgt. Zunächst hoffte ich schriftlich
oder persönlich von ihr zu erreichen, daß sie sie uns
gegen unsere Abschriften überlasse, was mir wol auch gelungen
wäre, dann hielt mich ihre 1874 erfolgte unsinnige Verheirathung
und der Scandal, der sich daran knüpfte, ab, zumal sie daran
nicht erinnerte [...]. Bald hieß es, sie habe ihren Nachlaß
der Stadt Florenz vermacht, bald, daß sie den literarischen
Nachlaß ihres Onkels Varnhagen der Königl. Bibliothek
in Berlin vermacht habe. So behalten wir die Briefe noch ruhig,
bis Jemand danach fragt.
Nach Preußen, wo Ludmilla Assing ihrer Publikationen wegen
steckbrieflich verfolgt, zu Haftstrafen verurteilt und gesellschaftlich
geächtet wurde, mochte sie nach einigem Zögern nicht zurückkehren.
Trotz ihrer Amnestierung beteuerte sie, »doch wahrlich das
gegenwärtige Berlin durchaus für keinen sichern Aufbewahrungsort
meiner Papiere« zu halten. Dennoch entsprach sie den in der
Erbfolgeregelung seines Testaments formulierten Wünschen ihres
Onkels (Anhang 5), als sie im Juli 1872 beschloß, ihr Vermächtnis
der Königlichen Bibliothek anzubieten.
Damals verpflichtete sie die künftigen Verwalter, die Sammlung
gesondert aufzustellen, zusammenzuhalten und der Öffentlichkeit
zugänglich zu machen (Anhang 8). Ausführlich begründete
die Erblasserin am 15.7.1876, weshalb sie die Sammlung nicht in
Italien, ihrer zweiten Heimat beließ (Anhang 9). Bei Nichterfüllung
sollte das Legat der Kantonsbibliothek Zürich zufallen, wobei
ihr einem älteren, gleichlautenden und ihren damaligen
Ehemann Cino Grimelli nur finanziell begünstigenden Testament
zufolge besonders wichtig war, daß ihre Landsleute
dorthin leicht anreisen können (»dove sarebbe sempre
facile pei miei compatriotti di recarsi«).
Die Fußnoten
und den Anhang Die Sammlung Varnhagen in Testamenten und Verfügungen
finden Sie im Almanach der Varnhagen Gesellschaft 1, Berlin
Verlag Arno Spitz 2000, S. 261271.
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